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Wandel und Kontinuität - 380 Jahre Gymnasium

von Gisela Lohbeck, Schulleiterin 1996-2008 

Nomen est Omen – 50 Jahre Theodor-Heuss-Gymnasium Heilbronn. Seine 380- jährige Geschichte als Gymnasium Illustre und Karlsgymnasium reicht zurück bis ins frühe 15. Jahrhundert zur vorherigen Lateinschule der alten Reichsstadt Heilbronn. Wer hat unser Gymnasium geprägt? Welchen Einflüssen war die Schule ausgesetzt? Wo steht unser Gymnasium heute?

Dass gerade Theodor Heuss durch Oberbürgermeister Paul Meyle und den Gemeinderat der Stadt Heilbronn 1950 zum Namenspatron für das wiederbegründete humanistische Gymnasium erkoren wurde, war ein programmatisches Bekenntnis zu Wandel und Kontinuität.

An unserem Gymnasium wird seit seinem Bestehen, dem Studium der lateinischen Sprache eine besondere Bildungsqualität zugesprochen. Diese Kontinuität bleibt auch beim neuen, gewandelten Fremdsprachenangebot erhalten. Seit dem Schuljahr 1999/ 2000 bietet das Theodor-Heuss-Gymnasium Heilbronn den zeitgleichen Start der beiden Fremdsprachen Latein und Englisch an, wobei dem Lateinischen eindeutig die Leitfunktion zukommt. Heute gelten allerdings veränderte didaktische Ziele, als dies erste Quellenbelege der alten Heilbronner Lateinschule um 1470 spiegeln: Während der sumerzit sollte der rector scholae, Magister der Künste bzw. der Theologie, morgens so es funfe slecht examinieren in grammatica ein stund ... darnach sol man das latin examinieren ... item zur winterzyt sol man morgens anheben so es sehse slecht ... (1) Vertrautheit mit der an den europäischen Universitäten gesprochenen lateinischen Sprache stand im Vordergrund der Bemühungen und Auswendiglernen war der Weg dazu, da vor und noch geraume Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks Bücher rar und nahezu unerschwinglich waren. Damals konnte man die Studierfähigkeit nur an einer Lateinschule erwerben. Die Unterrichtssprache war lateinisch. Einziger Lerngegenstand war das mittelalterliche Latein, wie man es in der Bibel las. Außerhalb der Schule hatte der Schulmeister mit seinen Schülern beim Gottesdienst die lateinischen Gesänge zu übernehmen. Als 1492 ein neuer Schulmeister versuchte, mit den Dichtern Terenz und Horaz eine reineres Latein zu lehren, lockte das viele auswärtige Schüler nach Heilbronn. Zugleich wurde es aber schwieriger, Latein zu erlernen, so dass 1514 durch einen Ratsbeschluss deutsche Klassen, ohne das gelehrte Latein eingerichtet wurden. 1522 wurden diese Klassen in einer Deutschen Schule zusammengefasst, die als Schreib- und Rechenschule auf alle Kaufmannschaft vorbereiten sollte. Hier konnten auch Mädchen, allerdings in eigenen Klassen, zur Schule gehen. Ab 1527 stand Griechisch auf dem Stundenplan. (2)

Mit der Gründung des akademischen Gymnasiums illustre 1620 wurde ein langgehegter Wunsch der reichsstädtischen Bürgerschaft realisiert: Vermehrte Klassikerlektüre, vertiefter Unterricht in Dialektik und Rhetorik sowie ... Physik, Astronomie, Ethik und Theologie ... die die Heilbronner Schulabgänger in die Lage versetzen, an den Universitäten sofort mit dem Studium beginnen zu können.(3) Nach großen anfänglichen Erfolgen lähmten die Auswirkungen des 30jährigen Krieges die Entwicklung des Gymnasiums. Besonders das Hunger- und Pestjahr 1635 raffte ganze Klassen hinweg ..., nach dem Protokollbuch des Gymnasiums starb beinahend der halbig Theil der Burgerschaft. (4)

Wandel und Kontinuität

 

Im 18 Jahrhundert versuchte man erneut, Unterricht auf der Höhe der Zeit zu erteilen. Das grundständige Latein stand noch immer zu Beginn und wurde durch Deutsch, Französisch, Italienisch, Hebräisch und die naturwissenschaftlichen Fächer ergänzt. Trotzdem beklagte man einen starken Rückgang der Schülerzahlen in den oberen Klassen. Für viele war das hohe Schulgeld des Gymnasiums unerschwinglich. Während der napoleonischen Zeit besetzten Truppen des Herzogs von Württemberg 1802 die freie Reichsstadt Heilbronn. Durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803 wurde Heilbronn zur württembergischen Stadt, das Gymnasium 1806, im Zuge einer Verwaltungsreform, königlich württembergisches Gymnasium. Seither liegt die Schulaufsicht in württembergischen Händen. (5) Die 200-Jahr-Feier des Heilbronner Gymnasiums 1820 war überschattet von der Absicht, die Schule in ein Lyzeum zu verwandeln. Das hätte bedeutet, dass die zum Studium an den Universitäten berechtigende Oberstufe fortgefallen wäre. Dank des reichsstädtischen Traditionsbewusstseins und der Bereitschaft des Heilbronner Stadtrates, erhebliche eigene Mittel bereitzustellen, gelang es 1823, die Kontinuität der gymnasialen Bildung sicherzustellen. 1827 konnte an der Karlstraße das neu erbaute Karlsgymnasium feierlich eingeweiht werden. Namenspatron war der damalige württembergische Kronprinz Karl. Die Schule umfasste nun sieben Klassen, wobei die beiden letzten je zwei Jahre hindurch besucht wurden. Außerdem gab es noch zwei sog. Realklassen ohne Latein und Griechisch. Ein der Schule angegliedertes Königliches Pensionat bot in erster Linie Unterkunft und Betreuung für die Ausländer. Als Ausland galt im Jahr 1863 noch Baden, Bayern, Hannover und Preußen! (6).

Das rasche Anwachsen der Bevölkerung, vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, brachte der Stadt ... hohe Belastungen. Die alten Anstalten konnten die Schülermassen nicht mehr aufnehmen. (7)

Um 1800 lebten in der Reichsstadt Heilbronn ca. 7500 Menschen, im Jahr 1848 waren es schon 12 400. Von 30 000 Einwohnern im Jahr 1880 war die Zahl auf 38 000 im Jahr 1900 angewachsen. Vom Heilbronner Gemeinderat 1878 in Auftrag gegeben, konnte der monumentale Neubau des Karlsgymnasiums schon 1880 eingeweiht werden: Drei Stockwerke hoch und zweiflügelig. Die beiden Gebäudeflügel vereinigten sich in einem kuppelüberspannten Eckturm, über dessen zweiter Fensterreihe der Leitspruch der Schule Musis – Patriae – Deo eingemeißelt war. Mit 22 Klassenzimmern, zwei Arbeitsräumen, dem Festsaal samt zwei Vorzimmern, sowie den Wohnungen des Rektors und des Famulus, erschien das neue Gebäude den Zeitgenossen wie ein Palast. (8) Heilbronn war stolz auf seine Schulen. Die besondere, oft auch abschätzend zitierte Krämerseelenmentalität(9) hat das Heilbronner humanistische Gymnasium immer vor allzu großer ideologischer Einseitigkeit bewahrt.

Dies bestätigt Theodor Heuss in vielen seiner Schriften (10). In den 90er Jahren war er Schüler des Karlsgymnasium. Sein Vater hatte 1890 die Leitung des Heilbronner Tiefbauamtes übernommen. Heilbronn war, dank seiner blühenden wirtschaftlichen Entwicklung, zur zweitwichtigsten Industrie- und Handelsstadt des Königreichs Württemberg geworden. Obwohl am 31. Januar 1884 im nahegelegenen Brackenheim geboren, sind die Beziehungen von Theodor Heuss zu Heilbronn Zeit seines Lebens immer sehr eng gewesen. Er selbst bezeichnete Heilbronn als seine eigentliche Vaterstadt ... hier habe ich die ganze Schulzeit zugebracht, in der Kilianskirche wurde ich konfirmiert ... Ich habe dann die ersten Jahre der selbständigen beruflichen Erfahrungen in völliger Freiheit in den Jahren vor und in den schweren Jahren des ersten Krieges hier zugebracht. (11) 1902 legte Theodor Heuss am Karlsgymnasium sein Abitur ab. Er betonte immer, gern zur Schule gegangen zu sein, sei aber nie ein Musterschüler gewesen. Zur Ehrung durch den Schulnamen meinte er: Ich war nicht gerade bestürzt, aber doch einigermaßen besorgt, ob ich diese Würde innerlich verkrafte, denn, das meinte ich damals, in der tragischen Nacht, da das alte Heilbronn vernichtet wurde, sind auch die Schulakten mit untergegangen. Sie hätten den wohllöblichen Stadtrat und seine Berater etwas stutzig machen können. Ich war wohl ein guter Schüler, aber kaum bezweifelbar auch das, was man einen bösen Buben nennt. Gleich zweimal innerhalb von dreier Wochen saß ich oben im Karzer, der einen vergitterten Ausblick auf die eiligen Wolken, Segler der Lüfte zuließ, und war damit bis zum Ende der Schulzeit Klassenmonopolist in dieser Branche des Karzerbesuches. (12)

Anlässlich der 300-Jahr-Feier des Karlsgymnasiums 1920 erinnerte der damalige Schulleiter Dr. Julius Wagner, an das immer noch wichtigste Ziel des humanistischen Gymnasiums: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Gymnasium keine Fachschule sein will, sondern eine Schule gründlicher allgemeiner Bildung, auf deren Boden sich dann unschwer die spätere Berufsausbildung aufbauen lässt. (13) Mit der nationalsozialistischen Zeit beginnt der beschwerlichste Abschnitt unserer Schulgeschichte. Mutig und offen hatte sich Schulleiter Dr. Paul Würthle den zu Beginn des Jahres 1933 immer bedrohlicheren politischen Entwicklungen, auch in Heilbronn, entgegenstellt. Spektakuläre Reaktion darauf war die sofortige Amtsenthebung und Wegversetzung. Im Jahr 1938 vereinigten die Nationalsozialisten zwangsweise das Karlsgymnasium mit der Dammrealschule zu einer Oberschule der Einheitsform mit dem Namen Karls-Oberschule. (14)

Während des zweiten Weltkrieges konnte der Schulbetrieb nur noch behelfsmäßig aufrechterhalten werden, schließlich wurde das gesamte Schulgebäude Lazarett. Beim großen Luftangriff auf Heilbronn am 4. Dezember 1944 versank das Karlsgymnasium in Schutt und Asche. Wertvolle Inkunabeln waren zusammen mit der kostbaren Schulbibliothek für immer verloren.

Schon bald nach Kriegsende wurde von seiten der Eltern, unterstützt durch einzelne Lehrer und Dr. Theodor Marstaller (15), dem damaligen Schulleiter der Vereinigten Heilbronner Oberschulen, die Wiederbegründung des humanistischen Gymnasium gefordert.

Der altsprachliche Zug der Vereinigten Heilbronner Oberschulen wurde am 16.September 1950 wieder selbständig (16) und erhielt in Anwesenheit des ersten Bundespräsidenten Prof. Dr. Theodor Heuss, den Namen Theodor-Heuss-Gymnasium Heilbronn.

Wandel und gleichzeitig Kontinuität – so sah dies auch der Namenspatron: Ich bin ein Verteidiger des humanistischen Gymnasiums, auch wenn mir jeder nachweisen kann, dass Griechisch und Lateinisch kein Mensch heute mehr redet, und meint, es wäre viel gescheiter, Englisch, Französisch, Russisch und Italienisch zu lernen – nichts dagegen zu sagen. Warum aber auch das Humanistische? Weil, wenn wir darauf verzichten, wir den geistigen Zusammenhang mit unserer eigenen Volks- und Geistesgeschichte verlieren. Weil das ganze geistige Werden doch damit bestimmt ist, auch im Gespräch mit anderen Völkern. Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen und das Capitol in Rom. Aus alles ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen. (17) Nach einer kurzen kommissarischen Führung durch Walther Ederle (18), leitete Dr. Karl Weiß (19) von 1951 bis 1959 das Theodor-Heuss-Gymnasium. Als 1958 der von dem bekannten süddeutschen Architekten Paul Salzbrenner entworfene Schulneubau, in unmittelbarer Nähe des früheren Karlsgymnasiums, eingeweiht werden konnte, griff Dr. Weiß Gedanken aus einer Rede von Heuss aus dem Jahr 1913 (20) auf: Größer sollte unsere Schule nun nicht mehr werden, damit sie überschaubar bleibt und kein Mammutinstitut wird. Es ist schon heute nicht immer leicht, im Jahrhundert der Vermassung, der Ruhelosigkeit und des Tanzes um das goldene Kalb dem humanistischen Gedanken zu dienen. Aber gerade in einer Zeit weitgehender seelischer Inhaltslosigkeit, die man so oft mit dem Wort ‚nüchterne Wirklichkeit’ tarnt, steht ein humanistisches Gymnasium – humanistisch in des Wortes erweiterter vertiefter Bedeutung – vor einer großen Aufgabe. Diese besteht darin, bleibende menschliche Werte sichtbar zu machen und jungen Menschen Maßstäbe in die Hand zu geben, die für den Aufbau eines sinnvollen Lebensplanes wesentlich sind ... Solange wir der Ansicht sind, dass der Geist mehr ist, als die Materie, müssen wir das Bildungsgut des humanistischen Gymnasiums bejahen, auch dann und gerade dann, wenn seine Abiturienten später Männer der Politik, der Verwaltung, der Industrie und der Wirtschaft werden. (21) Die Schulleiterära von Dr. Karl Epting(22) 1960 bis 1969 schließt sich eng an Weißsche Vorgaben an. Dr. Epting veröffentlichte zahlreiche Vorträge und Schriften. Erwähnt seien hier nur seine Gedanken eines Konservativen (23) und Die Humanismen der Gegenwart und unsere klassische Bildung (24). [Ergänzung Frank Martin Beck, Schulleiter, im November 2019: Dr. Conrad Lay hat eine längst fällige Neubewertung vorgenommen; er gelangt zu einer differenzierteren Einschätzung. In zwei Vorträgen in Affaltrach (25.4.2019) und Heilbronn (22.11.2019) stellte er Eptings nationalsozialistische Vergangenheit, sein ideologisches Wirken und sein auch nach Kriegsende und Haft offenbar unverändert völkisches und antisemitisches Denken heraus. Dass Epting trotz einer solchen Gesinnungsart nicht nur als Studienassessor in den höheren Schuldienst übernommen, sondern einige Jahre später sogar als Schulleiter des Theodor-Heuss-Gymnasiums eingesetzt wurde, ist gewiss ein Symptom für die Kontinuität der damaligen Eliten in wesentlichen Bereichen der Justiz, Wirtschaft, Politik, Bildung und Verwaltung, aber dennoch heutzutage nur schwer nachvollziehbar. Dr. Lays Recherchen mündeten in einen Beitrag, der in den Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 24, einer Schriftenreihe des Heilbronner Stadtarchivs, im Jahr 2020 erschienen ist. Darüber hinaus wird eine schriftliche Fassung seiner Vorträge als Teil der Festschrift zum 400-jährigen Jubiläum unseres Gymnasiums veröffentlicht werden.] Die beginnenden sechziger Jahre waren eine Phase der Konsolidierung, die Zahl der Griechischschüler stieg um ein Drittel. Unter Dr. Epting erhielt das THG den sog. Spangenanbau zwischen Schulhaus und Turnhalle.

Rainer Blessing (25) leitete das Theodor-Heuss-Gymnasium von 1969-1992. Im Jahr 1970/71 feierte die Schulgemeinde das 350-jährige Jubiläum des Gymnasiums mit einem Schulball und einer Festschrift (26). Zu der Zeit waren die Unruhen, die im Zuge der 68-Revolution auch voll auf das Schulleben übergriffen, es zum Teil lähmten, bereits wieder abgeklungen. Während der siebziger Jahre bildeten die Auswirkungen der Oberstufenreform mit ihrem Grundkurs- und Leistungskurssystem eine echte Zerreißprobe für das humanistische Gymnasium (27). Blessing hat es mit viel Umsicht und unter großem persönlichem Einsatz verstanden, die Substanz der Schule – auch in Zeiten der bildungspolitischen Verwässerungspolitik – zu bewahren. Die großen Wahlmöglichkeiten in den beiden Jahrgangstufen 12 und 13 erforderten höhere Schülerzahlen, weshalb ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Zug angegliedert werden musste. Leider bekam die Schule diesen, nach Blessings Ansicht, nur sehr verkappt und eingeschränkt (28) genehmigt. 1977/78 wurde die gesamte Schule für 2 Millionen DM generalsaniert. Das reiche Schulleben dieser Zeit ist vielfältig in den 18 Schuljahrbüchern und der Schülerzeitung Schlotterle dokumentiert.

Während der dreijährigen Schulleiterzeit von Jan Christiansen (29) von 1992 bis 1995 widmete sich die Schule in vielen Bereichen den Vorbereitungen zum 375-jährigen Jubiläum des Gymnasiums 1995. Die Theater-AG, das Orchester und die Schulchöre erarbeiteten für diesem Anlass 1995 eine großartige Carmina-Burana-Aufführung. Das 19. Schuljahrbuch erschien als Jubiläumsfestschrift (30). Die beiden Computerräume wurden eingerichtet und die Rektoratsräume vollständig erneuert.

Nach dem Weggang von Jan Christiansen leitete der stellvertretende Schulleiter Otto Ebert (31), qua Amt, die Schule im Schuljahr 1995/96, immer tatkräftig unterstützt von Norbert Wacker. Durch ihr umsichtiges Bemühen wurde der innere Schulfrieden bewahrt und gemeinsam ein neuer Anfang gesucht.

Fragt man: Wo steht unser Gymnasium heute? Dann sollte man zuerst fragen: Wo stehen wir heute? Wandel und der darin sichtbare Beschleunigungsfaktor sind ein Dauerthema geworden. Der altbekannte Satz Wissen ist Macht müsste in der Sprache unserer Zeit übertragen heißen Wissen ist Wandel. Ähnlich wie bei der Erfindung des Buchdrucks verändert auch die neue Computer-Technologie den Wissenserwerb. Er wird beschleunigt. Verbessertes Wissen führt zur Entwicklung neuer Technologien; diese wiederum sind der Motor weiterer Veränderungen - Wissen wird so zum Treibstoff jeglichen Wandels. Lange Zeit konnte man die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, zusammen mit ein paar Maschinen und Elektrizität immer produktiver kombinieren. Kapital ist nicht mehr knapp, denn die Wissensgesellschaft braucht nur wenig feste Anlagen. Arbeitende sind nur insoweit interessant, als sie Wissen einbringen. Zunehmend werden sich Einzelne über rasch wechselnde Projektfirmen gruppieren oder über Datennetze in Wertschöpfungsketten eintreten. In einer Zeit der totalen Beschleunigung, in einer Zeit, in welcher die Struktur des Netzes zum Paradigma des Denkens geworden ist, darf der technologische Wandel und das Aufkommen virtueller Welten nicht verteufelt werden. In der Struktur des Internets spiegelt sich unsere Zeitsituation: Das Netz schreibt keine Richtung vor. Das Netz ermöglicht Verbindungen. Jeder kann seine Wege, seine Richtung im Netz selbst suchen. Was er mit der Informationsfülle macht, wie er sie für sich nutzt, ist seine Sache. Experten gehen davon aus, dass sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Informationsfülle alle fünf Jahre verdoppelt, allerdings die Hälfte davon innerhalb von drei bis vier Jahren wieder veraltet. Das muss Folgen haben für unser gesamtes Bildungswesen. Und die vordringlichste Frage bleibt: Wie lässt sich die expandierende und zugleich veraltende Stofffülle ordnen, strukturieren? Was gehört heute zu einer allgemeinen Bildung? Sicherlich kann Allgemeinbildung nicht mehr heißen, Erkenntnisse, Daten und Informationen enzyklopädisch anzuhäufen. Umschreibt Bildung nicht in erster Linie die Fähigkeit, die Fülle an Eindrücken und Wissen zu ordnen, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, um sich in der Welt zu orientieren? Welches Orientierungswissen muss das Gymnasium zusätzlich vermitteln?

Warum sind junge Menschen von virtuellen Spiellandschaften so begeistert? Sie vergrößern die Zahl der Ereignislandschaften. In der Simulation der Realität werden interessantere Handlungsräume angeboten Dies sollte uns zu denken geben, auch wenn wir die vermeintliche Komplexität dieser in den meisten virtuellen Spielen vorgegebenen Handlungsmuster als zu ‚programmiert’ ablehnen. Durch diesen Wandel der Erfahrungswelten bricht die Zukunft in unser Leben ein. Ein gehöriger Teil dieser Zukunft wird sich in virtuellen Welten abspielen. Wir müssen uns diesem Wandel stellen. Wie können wir uns im Gymnasium diesem Wandel stellen?

Die Antwort auf diese Frage halte ich für eine der zentralen Herausforderungen der Schule in unserer Zeit. Zum Glück ist nicht jede Situation, in die wir gestellt sind, völlig neu. Es bestehen Ähnlichkeiten, und diese Ähnlichkeiten ermöglichen uns, aus Erfahrungen zu lernen. Das Denken in Analogien setzt immer einen Zusammenhang voraus, der aber als solcher nicht offenbar ist und folglich erst aufgesucht, erst gefunden werden muss. Wir müssen unsere Lehrpläne durchforsten und fragen: Wo bietet sich wertvolles ‚Erfahrungslernen’? In welchen Stoffgebieten und in welchen spezifischen Arbeitsformen kann dies gemeinsam geschehen.

Wo liegen Transfermöglichkeiten der Schulbildung – jetzt? später? Die Forderung muss heißen: Probehandeln ermöglichen. Das Erlernte muss sich daran messen lassen, welche Denkstrukturen letztlich gewonnen wurden. Welche Urteilskraft sich bilden kann. Problemlösungsstrategien entwickeln, Konfliktfähigkeit erwerben, müssen zentrale Lernziele des Gymnasiums sein. Erste Anfänge, wenngleich noch auf freiwilliger Basis, wurden in den neuen, bewusst interdisziplinär strukturierten Seminarkursen der Jahrgangsstufe 12 gemacht. All dies bedeutet aber gleichzeitig eine Einschränkung der Stofffülle, mehr Zeit für eigenverantwortliche Lernprozesse, mehr Zeit für die angemessene Präsentation der erarbeiteten Ergebnisse, etwas mehr weg vom konsumierenden Lernen hin zur verstärkt eigenverantwortlichen Anstrengung. In diesem Zusammenhang gewinnt das grundständige Latein wieder an Aktualität. In der Zeit vor der Pubertät lernt man Sprachen leichter. Wer – zugegeben auch mit etwas erhöhter Anstrengung – zu einem frühen Zeitpunkt den Einstieg mit Latein wagt, bemüht sich zugleich um seine Muttersprache Deutsch. Das gilt auch für jede weitere Fremdsprache. Gerade die ‚Wenn – dann – Struktur’ des Lateins fördert vernetztes Denken. Dieser scheinbare ‚Umweg’ entpuppt sich damit als ‚Abkürzung’.

Die für das Jahr 2002 vorgesehene neue Oberstufenreform für die Jahrgangstufen 12 und 13 wird – so wie sich das im Augenblick darstellt - wieder einen gemeinsamen Pflichtbereich in den Kernkompetenzfächern Deutsch, Fremdsprache und Mathematik und den Naturwissenschaften vorsehen. Zusätzlich muss ein Profilfach und ein weiteres Neigungsfach gewählt werden. Die Schulpolitik in Baden-Württemberg bewegt sich wieder hin zum anspruchsvolleren Abitur und zu einer fundierteren Bildungsgrundlage. (32)

Der Wandel der Zeiten spiegelt sich in der Geschichte unseres Theodor-Heuss-Gymnasiums, die Kontinuität im Fragen stellen und Antwort suchen. Theodor Heuss umschrieb dies einmal so: eine Kraft schaffen, die Maß und Gewicht besitzt (33). Nicht was sich marktgerecht als Neues anbietet, ist innovativ, sondern das, was Vertrautes in Frage stellen kann, zur Überprüfung herausfordert.

Abdruck aus dem Jahrbuch zum 50jährigen Bestehen des Theodor-Heuss-Gymnasiums (2000)

Anmerkungen

  1. 350 Jahre Gymnasium in Heilbronn. Festschrift zum Jubiläum des Theodor-Heuss-Gymnasiums. Bearb.v. Alfred Kolbeck. Hrsg.v.d.Schulleitung des Theodor-Heuss-Gymnasiums in Heilbronn.- Heilbronn 1971, S.
  2. ebda., 13 f.
  3. Zur Hausweihe des Theodor-Heuss-Gymnasiums. 29. März 1958. Hrsg. v. Theodor-Heuss-Gymnasium.-Heilbronn 1959, S.6.
  4. ebda.
  5. 350 Jahre Gymnasium in Heilbronn. 1971, s. Anm.1, S.23.
  6. ebda., S.29.
  7. Zur Hausweihe des THG. 1958, s. Anm. 2, S.8.
  8. 350 Jahre Gymnasium in Heilbronn. 1971, s. Anm.1, S.31.
  9. ebda.,
  10. "Oh Heilbronn du Stadt der Krämerseelen!" Mit diesen Worten soll angeblich Oberbürgermeister Hegelmaier im Zorn der Stadt den Rücken gekehrt haben.
  11. Heuss, Theodor: Vorschule des Lebens. Jugenderinnerungen. Tübingen 1953 , S. 69 f.
  12. Aus einer Rede von Theodor Heuss, anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerrechte der Stadt Heilbronn; vgl. Zum 100. Geburtstag von Theodor Heuss. Ansprachen anlässlich des Festaktes in der Festhalle Harmonie am 31.1.1984. Hrsg.v. der Stadtverwaltung, S.6(= Heilbronner Vorträge, H,20).
  13. Heuss, Theodor: Vorschule des Lebens. s. Anm. 10, S. 80f.
  14. 350 Jahre Gymnasium in Heilbronn, s. Anm.1, S.35; zitiert nach der EHO-Zeitung Nr.4(1920)-
  15. ebda., S.37
  16. vgl. Schneck, Andreas: FS Wandel und Kontinuität, S.79 - 105
  17. am selben Tag wurden die neuerbauten Schulgebäude des Robert-Mayer-Gymnasiums und der Rosenauschule eingeweiht; vgl. 350 Jahre Gymnasium in Heilbronn.1971, S.47:
  18. ebda.,
  19. vgl. Meincke, Ernst: Karl Weiß.- In: FS Wandel und Kontinuität. S. 35 - 43.
  20. Heuss, Theodor: Rede zum EHO-Tag 1913. Vorwort wiederabgedruckt in Zur Hausweihe.s. Anm. 2, S.1.
  21. Weiß, Karl: Gedanken zur Hausweihe. s. Anm. 2, S. 5.
  22. vgl. Wiedmann, Eugen: Karl Epting.-In: Wandel und Kontinuität. S. 45 - 49.
  23. Epting, Karl: Gedanken eines Konservativen.Aufsätze und Vorträge. Bodman/Bodensee 1977.
  24. Epting, Karl: Die Humanismen der Gegenwart und unsere klassische Bildung. In: Gedanken eines Konservativen. s. Anm.23, S. 50- 73 ;( = Sonderdruck )
  25. vgl. Lohbeck, Gisela: Rainer Blessing.- In :Wandel und Kontinuität. S. 61 - 70.
  26. vgl. Anm. 1.
  27. Blessing, Rainer: Rede zum Schuljahr 1977/78.- in: Schuljahrbuch, S. 61 - 71.
  28. ebda.
  29. vgl. Ebert,Otto: Jan Christiansen.- In: Wandel und Kontinuität. S. 73. und Christiansen, Jan: Die Schule als moralische Anstalt betrachtet.-In: Festschrift 1995, vgl. Anm. 30, S.7-21.
  30. Theodor-Heuss-Gymnasium Heilbronn. Jahrbuch zum 375jährigen Bestehen der Schule. H.19 (1994/95).
  31. vgl. Lohbeck, Gisela : Otto Ebert.- In: Wandel und Kontinuität. S. 75 - 77.
  32. Die gymnasiale Oberstufe.-In: Info-Dienst Schule Baden Württemberg.Spezial. Hrsg.v.Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (April 2000) S.3f.
  33. Theodor Heuss in seiner Rede als frischgewählter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland vor dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesversammlung am 31.8.1949. – In: Dahrendorf, Ralf u. Vogt, Martin (Hrsg.): Theodor Heuss, Publizist und Politiker. Ausätze und Reden. Tübingen 1984, S.377.

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